Autochthon ist ein Wort, das beim Lesen nach Fehlerteufel aussieht und die Augen über die Buchstaben stolpern lässt. Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff ist sowohl in der Önologie als auch in der Völkerkunde, Geologie, Orthopädie und Biologie regelrecht heimisch. Außerdem war der sagenhafte Autochthon, ein Sohn Kleitos' und Poseidons, einer der Könige von Atlantis.
Aus der sagenumwobenen Welt zurück zu vinophilem Wissen und einer Erklärung des Begriffs autochthon im Weinbau. Die Erwähnung „autochthone Rebsorte“ ist mittlerweile sehr selbstverständlich in Weinbeschreibungen zu finden. Das setzt voraus, dass die Weininteressierten wissen, was damit gemeint ist. Diese Rebsorten tragen Namen, die nicht unbedingt geläufig sind. Auf dem Etikett einer Weinflasche kann das schon verunsichern, wenn man nicht einordnen kann, ob es sich um die Herkunft, den Winzer, den Eigennamen des Weines oder – eben die Rebsorte handelt.
Was bedeutet autochthone Rebsorten?Die kürzeste Erklärung des Wortes autochthon lautet „am Fundort vorkommend“. „Erdentsprossen“ ist eine passende Übersetzung von autós = selbst und chthōn = Erde. Autochthon bezeichnet das hier am Ort Entstandene, Einheimische, Natürliche, Evolutionär und ohne menschlichen Einfluss Gewachsene.
Autochthone Rebsorten sind die ursprünglichen Trauben einer Region. Sie vermitteln das besondere, lokale, „nur-hier-Gefühl“ in einer globalen Rebsortenwelt. Sie gehören zur Kultur, zur Landschaft und schlagen eine generationsübergreifende Brücke über turbulente Zeiten und Trends. Sie sind authentische Zeitzeugen mit aktueller Bedeutung in der heutigen Weinproduktion.
Um die Definition noch zu ergänzen: autochthon ist das Gegenteil von allochthon. Allochthone (fremde) Arten wurden von Menschen in Regionen gebracht, in denen sie vorher nicht heimisch waren. Ein prima Beispiel für eine allochthone Rebsorte ist der Pinot Noir in Kalifornien. Mit französischen Einwanderern fand ab 1850 auch die Rebsorte in Amerika ein neues Zuhause.
Welche Rebsorten sind autochthon?Sorten wie Arneis aus dem Piemont, Godello aus Galicien, Teroldego aus dem Trentino oder Touriga Nacional aus Portugal bevölkern als unumstrittene Trauben-Ureinwohner die dortigen Weinberge. In Portugal und Italien gibt es bis heute mehrere hundert verschiedene autochthone Rebsorten mit mehr oder minder hohem Bekanntheitsgrad über die regionalen Grenzen hinaus.
Portugal hat es schon vor vielen Jahren geschafft, die schwer auszusprechenden Rebsorten in aller Munde zu legen. Die Region Vinho Verde ist international ein Begriff für lebendige und auch gehaltvollere Weißweine aus den Sorten Alvarinho, Azal Branco, Avesso, Batoca, Loureiro, Arinto und Trajadura. Das „gehört“ so. Da erwarte ich als Konsument die ursprünglichen Rebsorten in der Flasche, ganz gleich, ob ich mir deren Namen merken kann.
Italiens Weine aus autochthonen Sorten wie z. B. Glera, Garganega, Grillo, Catarratto, Nero d'Avola, Nebbiolo, Arneis, Inzolia und Primitivo sind teilweise unter den Namen der Anbaugebiete bekannt. Prosecco oder Soave klingen geläufiger und sind vertrauter als Glera oder Garganega.
Autochthon auch über die Region hinausDer Veltliner in Österreich ist eine autochthone Rebsorte, die internationalen Ruhm und größere Verbreitung erreicht hat. Der in Franken heimisch gewordene Silvaner wirkt in der Region durchaus ursprünglich. Dabei ist urkundlich belegt, dass am 6. April 1659 in Castell die ersten „25 Österreicher Fechser“ angepflanzt wurden. In den bis heute darauffolgenden 365 Jahren scheint der „Österreicher“, wie Silvaner als Kreuzung aus Traminer und Österreichisch Weiß früher genannt wurde, untrennbar mit Franken verwurzelt. Eine autochthone Rebsorte ist er am Main deshalb trotzdem nicht.
Anhand dieser beiden bekannteren Beispiele zeigt sich, wie schwierig oftmals die genaue Definition ist. So finden sich Erklärungen, dass nach mindestens 200 Jahren Anpflanzung einer Sorte in einer Region die Sorte als autochthon bezeichnet werden könne. Andersherum kann eine autochthone Rebsorte sich von ihrem Ursprungsort aus weiterverbreiten, ohne ihre Ursprünglichkeit einzubüßen. D. h. sie kann mittlerweile auch an anderen Orten vorkommen, bleibt aber für die ursprüngliche Region autochthon.
Warum bekommen diese alteingesessenen Rebsorten wachsende Bedeutung?Das hat bestimmt mehrere Gründe. Natürlich ist die Neugier der Konsumenten auf der Suche nach bisher Unbekanntem u. a. auch ein Antrieb für Produzenten, den Markt mit etwas Neuem zu beliefern. Dass das Neue durchaus etwas sehr Altes, eher Vergessenes ist, belebt sogar das Geschäft. Der Wunsch nach Ursprünglichem, Naturbewusstem in Zeiten des Klimawandels ist groß. Zurück zu den Wurzeln! Und damit sind wir schon beim nächsten Thema angelangt:
Wurzelechte RebenStreng genommen wachsen einige autochthone Rebsorten sogar noch wurzelecht, als „Outlaws“ im vor der Reblaus geschützten Weinberg. Seit der Reblaus-Katastrophe, die ab 1865 große Teile der Weinanbaugebiete in Frankreich zerstörte und noch bis 1913 in Deutschland ihr Unwesen trieb, gibt es Gesetze zum Schutz der Weinberge. Eine Reblaus-resistente Wurzelunterlage, auf die die gewünschte Rebsorte gepfropft wird, dient seither bei ca. 90 % der Anpflanzungen als Schutz gegen Phylloxera vastatrix. Neuanpflanzungen wurzelechter Reben wurden verboten. Ob die Qualitäten der Weine aus wurzelechten Reben besser als von gepfropften Stöcken sind, darüber kann man sehr unterschiedlicher Meinung sein. Immerhin sind Rebstöcke, die diesen Kahlschlag in den Weinbergen überlebt haben, nun deutlich über 100 Jahre alt. Das ist per se ein Qualitätsmerkmal.
Nach dem kleinen Exkurs in ein wirklich interessantes und geschichtsträchtiges Kapitel des Weinbaus, zurück zur Bedeutung der autochthonen Rebsorten. Ob wurzelecht oder nicht, die Vielzahl der ursprünglichen Sorten bringt Abwechslung ins Weinregal und ins Weinglas der Weinliebhaber. Die globalen Player wie Cabernet Sauvignon oder Chardonnay, die weltweit vertreten sind, haben in den letzten Jahren mehr und mehr Konkurrenz bekommen. Weinregionen besinnen sich nicht nur auf ihr Terroir, sondern auch wieder auf die Reben, die dort früher einmal wuchsen. Lokale Helden der Weinberge, die dank der Nachfrage und geschickter Vermarktung in der Welt herumkommen.
Größere Resilienz bei Rebsorten-Mischung im Weinberg anstelle von „Monokultur“?Ebenfalls mit der Reblaus-Katastrophe vielfach verschwunden ist der als „Gemischter Satz“ bepflanzte Weinberg. In vielen europäischen Ländern wuchsen verschiedene Rebsorten durcheinander in einem Weinberg. Initiativen, solche historischen, mittelalterlichen Weinberge zu rekultivieren, gibt es z. B. vom Weingut Beurer „Rettet die Reben“ in Kernen-Stetten unterhalb der Yburg oder die von Slow Food in die Arche des Geschmacks aufgenommenen fränkischen Weinberge mit historischen Sorten, dem „Alten fränkischen Satz“ wie z. B. in Volkach-Rimbach. In diesen gemischten Sätzen wachsen häufig noch bzw. wieder autochthone, alte Rebsorten mit.
In Spanien wurden per Crowdfunding 50 Jahre alte Weinfelder mit gemischten Rebsorten in der Manchuela erhalten. Trotz der extremen Witterungsbedingungen der letzten Jahre in dem Gebiet zwischen Valencia und Albacete ermöglicht gerade die Varietät immer Ertrag. Die unterschiedlichen Fähigkeiten der Sorten, mit Hitze, langanhaltender Feuchtigkeit und anderen witterungsbedingten Herausforderungen umzugehen, lässt nie den ganzen Weinberg leiden.
Bewertungen wie besser oder schlechter sind immer im Auge des Betrachtenden bzw. Verkostenden. Wer würde die Qualität eines neuseeländischen Sauvignon Blancs anzweifeln, nur weil er nicht von der Loire stammt?
Es geht vielmehr darum, sich der natürlichen Qualitäten und Resilienz alter Rebsorten bewusst zu sein und sie wieder zu nutzen, anstelle einer Handvoll beliebter Sorten mit viel pflegerischem und chemischem Aufwand unter den klimatischen Veränderungen weiter zu kultivieren. Der Aufwand, 120 Jahre alte Rebstöcke in einem noch nicht einmal 1 Hektar großen Weinberg in Freixo de Espada à Cinta im Douro-Nationalpark auf Schieferverwitter